Max Winter – Die Sozialreportage

Max Winter war österreichischer Reporter, Journalist, Schriftsteller und Politiker. Er ist der Erfinder der Sozial- und Rollenreportage im deutschsprachigen Raum. Nach den Turbulenzen der Ersten Republik geriet er in Vergessenheit und wurde erst nach 1980 als Meister der Reportage wieder entdeckt. Seine Reportagen waren zugleich »Alltagsgeschichtsforschung«, seine Methode der verdeckten Ermittlung, der teilnehmenden Rollenreportage, macht ihn zu einem großen Vorläufer zeitgenössischer Investigativ-Journalisten wie Günter Wallraff.

Winter hatte eine genaue Vorstellung davon, wie ein politischer Journalist zu sein hatte. Er sollte »überall eindringen, selber neugierig sein, um die Neugierde anderer befriedigen zu können, alles mit eigenen Augen schauen und was man sich nicht zusammenreimen kann, durch Fragen bei Kundigen herausbekommen, dabei aber nie vergessen, mit welchen persönlichen Interessen der Befragte an die Sache gekettet ist und danach die Antwort einschätzen, werten, anwenden. Nie etwas besser wissen wollen, erst sich belehren lassen durch das Geschaute und Erfragte, Beobachtete und Nachgelesene, dann aber ein eigenes Urteil bilden.« Gemäß seinem Credo »Die ungesundeste Luft für den Berichterstatter ist die Redaktionsluft« soll der Berichterstatter »Tag und Nacht mitten im Strom dieses Lebens schwimmen«, gemeint ist das Leben »auf der Straße, in den Fabriken und Werkstätten, in den öffentlichen Gaststätten, in den Häusern und Wohnungen, auf den Sport- und Spielplätzen, in den Gerichtssälen, in den Polizeistuben, auf den Rettungswachen, in den Spitälern, Waisen- und Armenhäusern, in den Gefängnissen, in den Gemeindestuben«. »Er soll vor allem die Stadt kennen, in der er wirkt und er soll all ihren tausend Geheimnissen, Ungereimtheiten, all dem Unrecht und der Bedrückung, das in ihr Herberge hat, nachforschen und er wird nicht fertig werden bis an sein Lebensende. Journalisten müssten Sensationen zum Thema ihrer Berichterstattung machen, aber ganz andere als die Klatschblätter, nämlich soziale Sensationen.« Denn »was die Menschen selber angeht, das lesen sie auch«.

Winter entwickelte dazu eine Art systematische Lehre des praktischen Journalismus. Wichtig war ihm die offene oder verdeckte teilnehmende Beobachtung und das Gespräch mit Betroffenen. Winter nannte seine Reportagen, da er sie natürlich als politischer Mensch schrieb: »Studien«, »Untersuchungen«, »Forschungs- oder Inspektionsreisen«. Sein Arbeitsfeld war die ganze Monarchie z.B. die Industriegebiete der Steiermark, die mährisch-schlesischen Weber und die böhmischen Fabrikarbeiter. Auch aus Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und England brachte er Reportagen mit, in relativ kurzer Zeit waren es an die 1500.

Für seine Arbeit nahm er sich viel Zeit, für die Reportage »Zwischen Iser und Neisse« (1900) etwa unternahm er eine 16-tägige Wanderung. Umfangreiche Recherchen betrieb Winter für seine Reportage »Die Blutsauger des Böhmerwaldes« 1905-1908. Die Ergebnisse veröffentlichte er in einer achtteiligen Serie der Arbeiter-Zeitung. Sein größter journalistischer Erfolg war »Der Fall Hofrichter« (1910), wo er die Missstände und Willkür in der Militärgerichtsbarkeit aufdeckte und dadurch sofortige Reformen auslöste. 1929 schrieb er seinen einzigen Roman, die Utopie »Die lebende Mumie«. Das Buch, das 1932 in Berlin erschien, handelt von einem Mann, der 1925 in Tiefschlaf verfällt und erst 100 Jahre später wieder aufwacht. Er erwacht 2025 in einer Welt ohne Hunger, Not, Unterdrückung. Weiters gibt es da ein »vereintes Europa« und einen Fernsehapparat in jedem Wohnzimmer.

Mit 23 Jahren hat Max Winter seine journalistische Karriere beim »Neuen Wiener Journal« begonnen. 1895 holte ihn Victor Adler zur »Arbeiter-Zeitung«. Zuerst als Gerichtsreporter tätig, lernte er die Wichtigkeit exakter Fakten und einer klaren Beweisführung. In seinen Reportagen ging es ihm vor allem um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeiter und sozial geächteter Personen. Um über das Leben von Strafgefangenen zu berichten, ließ er sich als Obdachloser verkleidet ins Gefängnis werfen. Bekannt wurde seine 1902 erschienene Reportage »Ein Strottgang durch Wiener Kanäle«, wozu er sich selbst als Sandler verkleidete. Als 1904 Reportagen von Winter erschienen, sprach ihm Alfred Polgar seine Anerkennung aus und lobte ihn als Vertreter der »Neuen Sachlichkeit«. Sein erstes Buch «Im unterirdischen Wien« 1905 erlebte vier Auflagen. Für das Stadtforschungsprojekt von Hans Ostwall in Berlin schrieb er zwei Bände: »Das goldene Wiener Herz« und »Im unterirdischen Wien«. Damals war auch Felix Salten sein Partner. 1914 bis 1918 war Winter Chefredakteur der »AZ. am Abend«.

Er war Sozialdemokrat und 1911-1918 Abgeordneter (Klub der deutschen Sozialdemokraten) zum Reichsrat. 1918-1923 war er Mitglied des Wiener Gemeinderats und bis 1933 Mitglied des Bundesrats. 1919 und 1920 war er unter Jakob Reumann einer der drei Wiener Vizebürgermeister und als Stadtrat kongenialer Vorgänger von Julius Tandler. Winter förderte und unterstützte »Die Kinderfreunde«, deren Mitbegründer und Bundesobmann von 1920 bis 1930 er war. 1923 gründete er für den Nationalratswahlkampf die Frauenzeitschrift Die Unzufriedene (Auflage 160.000), die wegen ihres großen Erfolgs aber im Ständestaat 1934 eingestellt wurde. Ende der 20er Jahre gründete er nach dem Vorbild des Hugenotten Reclam die »Wiener Groschenbüchel«, die den ärmeren Wienern einen billigen Zugang zu hochwertiger Literatur ermöglichen sollte. Die Auswahl traf Winter selbst. 1925 wurde er Präsident der »Sozialistischen Erziehungs-Internationale«. Ebenfalls 1925 startete er seine »Aktion Mühlstein« zur Gründung von Kinderbibliotheken in ganz Österreich.

1934 zwangen ihn die Repressionen des Ständestaates zur Emigration. Das wurde ihm durch eine Einladung zu einer Vortragsreise in die USA erleichtert. Thema: »Die politische Situation in Österreich«. Am 4.3.1934 sprach er in der Carnegie Hall vor 3000 Zuhörern, wobei er Engelbert Dollfuß einen »Arbeitermörder« nannte. Da das österreichische Konsulat davon nach Wien Meldung erstattete, wurde Winter durch die austrofaschistische Regierung die Staatsbürgerschaft wegen »österreichfeindlichen Verhaltens im Ausland« entzogen. Winter ging nach Hollywood, hatte aber dort nur wenig Erfolg. Ein bescheidenes Einkommen bot ihm seine »Californische«, später »Cosmopolitische Korrespondenz«.

Am 11.7.1937 starb er einsam in Hollywood. Sein Begräbnis fand im September 1937 auf dem Evangelischen Friedhof Matzleinsdorf statt. Obwohl es aus politischen Gründen geheim bleiben hätte sollen, kamen Tausende Menschen, begleitet von einem großen Polizeiaufgebot. Auf dem Grabstein findet sich die Inschrift »Sein Wort sprach für Freiheit und Recht. Seine Feder diente den Verkannten und Enterbten. Sein Herz aber schlug für die Kinder«.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 154-156.

 

Max WINTER

(eigentlich Max Alexander Stephan Julius Winter)

Geboren am 9. Jänner 1870 in Tárnok, Österreich-Ungarn.
Gestorben am 11. Juli 1937 in Los Angeles, Kalifornien, Vereinigte Staaten.

Reporter, Journalist, Schriftsteller und Politiker

Max Winter war der Sohn des Oberoffizial bei den k.k. Staatsbahnen Julius Winter, der mit seiner Familie 1873 nach Wien übersiedelte. Nach Volksschule und Staatsgymnasium in Wien-Landstraße absolvierte Max Winter eine Kaufmannslehre und studierte danach an der Wiener Universität  Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie, beendete diese Studien aber nicht.

Ab 1890 war Max Winter journalistisch tätig, arbeitete auch für das »Neue Wiener Journal« und wurde 1895 von Victor Adler zur »Arbeiter-Zeitung« geholt, wo er zuerst als Gerichtsreporter tätig gewesen ist und war von 1914 bis 1918 Chefredakteur der »AZ. am Abend«. In seinen rund 1500 Reportagen beschäftigte er sich hauptsächlich mit sozialpolitischen Tagesfragen. Dafür betrieb er akribische Quellenrecherche, aber auch unkonventionelle Recherchen am Ort des Geschehens, einige Male in Verkleidungen und mit Identitätswechseln.

Max Winter engagierte sich sowohl sozial als auch politisch, wurde Mitglied der damaligen  Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP) und war für sie von 1911 bis 1918 Abgeordneter zum Reichsrat, von 1919 bis 1923 gewählter Wiener Gemeinderat. 1919/20 auch Mitglied des Stadtrat Reumann sowie einer der drei Vizebürgermeistern der Stadt Wien, schließlich von 1925 bis 1933 ein vom Wiener Landtag gewähltes Mitglied des Bundesrates. Besondere Verdienste erwarb er sich um die Wiener Jugendfürsorge, unter anderem förderte und unterstützte er die Kinderfreunden.

Seit 2. August 1919 war er mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Josefine Lipa geb. Rieger verheiratet, die ihren Sohn Ferdinand mit in die Ehe brachte.

Im Februar 1934 gelang es Max Winter trotz der Februarkämpfen und dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Wien zu verlassen. Er war eingeladen worden, in den USA Vorträge über die politische Situation in Österreich zu halten und begab sich über Zürich, Paris und London nach New York. Am 17. Dezember 1934 wurde ihm von der austrofaschistischen Regierung wegen „österreichfeindlichen Verhaltens im Ausland“ die österreichische Staatsbürgerschaft entzogen. Die letzten Lebensjahre verbrachte Max Winter in Hollywood, wo er sich wenig erfolgreich als Drehbuchautor und Journalist versuchte und verarmt starb. Sein Leichnam wurde eingeäschert, die Urne nach Wien überführt und am 17.September 1937 auf dem Evangelischen Friedhof Matzleinsdorf bestattet..

Im Jahr 1949 wurde im 2. Wiener Gemeindebezirk der Sterneckplatz zum Max-Winter-Platz umbenannt. Auf diesem Platz befinden sich eine Schule und der im selben Jahr errichtete Max-Winter-Park mit einem Gedenkstein für Max Winters aus dem Jahr 1954.
Die Wiener soziale Einrichtung Haus Max Winter wurde 2010 nach ihm benannt.

 

 

Weblinks (Auswahl):

 

Literatur (Auswahl):

Ernst Seibert, Evangelische Kinder- und Jugendliteratur in Österreich vom Vormärz bis zur Zwischenkriegszeit. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 132/133 (2016/2017). Herausgegeben von Vorstand der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich. S 166f – https://books.google.at/books?id=1jAjEAAAQBAJ&pg=PA167&lpg=PA167&dq=Wiener+Groschenb%C3%BCchel&source=bl&ots=wK1YYb2t6U&sig=ACfU3U2NbwH2Qv5sYOivog43C7By_JCY-w&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjFs9PSvbD6AhWIposKHc7KDWE4FBDoAXoECBEQAw#v=onepage&q=Wiener%20Groschenb%C3%BCchel&f=false

Moritz Gottlieb Saphir – Skandaljournalist und Satiriker

Lithographie Joseph Kriehuber, 1835; Foto Peter Geymayer.
Aus Wikimedia Commons

Seine schriftstellerische Karriere begann 1821 in Budapest, als er seine ersten Arbeiten in der Zeitschrift Pannonia unterbringen konnte. Im selben Jahr erschien sein erstes Buch »Poetische Erstlinge«, ein Gedichtband. Adolf Bäuerle holte ihn 1822 für seine Wiener Theaterzeitung nach Wien, und hier zeigte sich schon seine ambivalente Begabung. Er war sprachlich hochbegabt und eckte überall an. Wegen seiner gnadenlosen Theaterkritiken und verschiedener Essays wurde er 1825 ausgewiesen und ging nach Berlin. Hier geschah dasselbe. Zuerst prominent und beliebt als Feuilleton-Redakteur der Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit, beim Berliner Courier und als Herausgeber des »Theateralmanachs auf das Jahr 1828« und als Gründer der literarischen Gesellschaft »Tunnel über der Spree« machte er sich immer mehr Feinde. Ein Kollege forderte ihn öffentlich zum Duell. Er bekam sogar Festungshaft, weil er die Sängerin Henriette Sontag mit einem Gedicht in der Spenerschen Zeitung beleidigte (»Sontag-Skandal«), Nach dem Gefängnis ging er 1829 nach München – wieder das Gleiche. Er gründete die Zeitschriften Der Bazar für München und Bayern und Der deutsche Horizont. Aber als er das bayerische Königshaus satirisch angriff, wurde er verurteilt und eingesperrt. Anschließend in Paris zeigte er mehr »Gspür«. Durch seine Vorträge wurde er berühmt, sogar König Louis Philippe lud ihn ein. Wieder in München übernahm er den Bayerischen Beobachter und wurde »Königlich Bayrischer Hoftheater-Intendanzrat«.

1832 konvertierte Saphir In München vom jüdischen zum evangelischen Glauben (evangelisch A.B.). In seinen »Memoiren« kommentiert er das satirisch: »Kein Verbrechen hab ich zu bekennen, aber einen >Geburtsfehler<! Ich bin nämlich von Geburt ein – Jude. Ich könnte sagen ein >Israelit< oder >mosaischer Religion<, aber Hühneraugen bleiben Hühneraugen, auch wenn sie unter einem anderen Namen unter die Leute gehen. Als Jude geboren werden ist jetzt, nachdem die Fackel der wahren Aufklärung von Kamtschaka bis weit über Hessen-Kassel hinleuchtet bloß ein >Geburtsfehler<; vor 25 Jahren war es noch ein >Geburtslaster<; und vor 60 Jahren war es ein Geburtsverbrechen. Börne, Heine und ich sind mit diesem Geburtsfehler auf die Welt gekommen. Wir haben ihn alle drei operiert.«

Nach Wien zurückgekehrt, arbeitete er wieder bei der Theater-Zeitung und gründete am 1.1.1837 die satirische Zeitschrift Der Humorist, die er bis 1858 herausgab (eingestellt 1862). 1848 spielte er erst »den Wilden«, zog sich aber dann vorsichtshalber nach Baden zurück. Das und eine gewisse journalistische Altersmilde brachten ihm, der ein Leben lang von der Zensur verfolgt wurde, den Ruf ein, ein »Reaktionär« gewesen zu sein. Legendär ist seine Gegnerschaft mit Nestroy, den er aber nicht nur gehässig kritisiert hat. In dem satirischen Entwurf für einen Brief an Saphir schrieb Nestroy 1848: »An mein liebes Saphirchen, schon glaubte ich, du habest vergessen auf mich …« Saphirs Hauptproblem war, dass sich die Zeitungskritiker offenbar noch nicht genug von der Zensur und dem Spitzelwesen emanzipiert hatten. Seine Texte sind weitgehend immer noch ein literarisches Vergnügen.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 125-126.